Kooperation trotz Corona – 8 Monate Jura-OER

Communities sind sich langsam entfaltende Netzwerke. Im Idealfall entstehen immer neue Knoten, die sich dicht und in alle Richtungen mit anderen Knoten verknüpfen. OpenRewi wächst und verzweigt sich seit über acht Monaten. In der Bewerbung für mein jetzt endendes Wikimedia-Fellowship im Sommer 2020 waren zwei Projekte geplant. Inzwischen sind es sechs. Über 90 Doktorand:innen, Habilitand:innen, Richter:innen und Studierende haben in regelmäßigen Booksprints bereits jetzt unzählige Seiten Open Educational Ressources in der Rechtswissenschaft erschaffen. Ohne ihren vielfältigen und engagierten Einsatz wären all die tollen Ergebnisse nicht möglich gewesen.

„Networked Nature. Steve Vitiello“ by Rhizome.org is licensed under CC BY-NC-SA 2.0

Herzstück war von Anfang an das Koordinationsteam, über das ich ganz besonders froh bin. Hier haben wir letzten Herbst die gemeinsamen Ziele aufgestellt, uns eine Struktur überlegt und diese Website online gestellt. All das rein digital, ohne ein einziges analoges Treffen. Gleichzeitig haben sich immer mehr Projekte gegründet, die jeweils im Koordinationsteam vertreten sind.

Durch das schnell wachsende Netzwerk konnten wir das Thema Open Education in weite Kreise der deutschen Rechtswissenschaft tragen. Wir waren präsent auf unterschiedlichen Tagungen und haben von allen Seiten sehr viel positiven Zuspruch erhalten. Nicht nur von Nachwuchswissenschaftler:innen, sondern auch von vielen Studierenden und Professor:innen. Hier soll es darum gehen, eine vorläufige Bilanz zu ziehen, wobei die nächsten Schritte bereits vorgedacht sind.

Andere Arbeitsweisen, Andere Strukturen

Ziel des Projekts war nicht nur, Open Access und Open Educational Ressources in der Rechtswissenschaft weiter voranzubringen. Es ging mir auch um eine neue Arbeitsweise. Anstatt einsam die eigenen Texte zu perfektionieren und sie anschließend an ein paar Kolleg:innen zu schicken, wollte ich den kompletten Prozess demokratisieren. Buchkonzepte gemeinsam erstellen, früh erste Prototypen schreiben und sie in einem offenen Peer-Review-Verfahren intensiv zu diskutieren, die Struktur des Werkes selbst zu hinterfragen – all das ist ungewöhnlich in der Rechtswissenschaft.

Open Educational Ressources sind mehr als freie Lizenzen. Das Teilen und Beitragen zu einem frei verfügbaren Wissenspool braucht gemeinsame Praktiken, die erprobt werden müssen. Was in der Free Software Bewegung selbstverständlich zu sein scheint, trifft auf zögerliche erste Annäherungen im juristischen Bereich. Nikolas Eisentraut hat hier mit seinem Lehrbuch zum Verwaltungsrecht einen wichtigen ersten Schritt gemacht. Bei OpenRewi ging es darum, diese Erfahrungen weiterzuverbreiten.

Um kollaborativ zu arbeiten, haben wir in den letzten Monaten mit zahlreichen Tools experimentiert. Das hat größtenteils einwandfrei funktioniert, auch wenn wir von unseren Autor:innen viel Zeit und Geduld verlangt haben. Kommunizieren über unsere Nextcloud-Instanz (Talk-App als Messenger, Deck-App als Kanban-Board für Aufgaben, Kalender-App und Umfragen-App für Übersicht und Abstimmungen), schreiben über unsere Wikibooks-Seite. Ein wesentlicher Beitrag meines Fellowships war das Schreiben von Anleitungen. In den letzten Monaten ist es zu einer Art Hobby geworden: für die Nextcloud, für die Kommunikation in der Nextcloud, für das Schreiben auf Wikibooks (oder im ATOM-Editor), Nutzung von CodiMD für Folien und natürlich über die organisatorischen Abläufe bis hin zu unseren gemeinsamen Formalia für die Bücher. Dazu gab es verschiedene Anleitungsvideos, um das Onboarding neuer Leute so einfach wie möglich zu machen.

Im Verlauf des Projekts kamen hier immer mehr Initiativen und Beiträge aus der Community; das gilt vor allem für die gemeinsamen Dokumente zur Veröffentlichung und eine erste Liste von rechtswissenschaftlichen Open Access Quellen. Nicht zuletzt wurde die komplette Website von meinem Kollegen und Mitglied des Koordinationsteams Luca Knuth umgesetzt. Das Dokument der didaktischen Anleitungen und Ideale des Projekts ist das Ergebnis intensiver Diskussionen über „das ideale Lehr- und Fallbuch“ sowie eines eigens dafür abgehaltenen Workshops. Gerade bei Wikibooks konnten wir uns auch stets auf die aktive Hilfe der Community verlassen.

Das diesjährige Programmjahr stand unter dem Gesichtspunkt der Knowledge Equity. Was als Wissen gilt und wer in den Wissensprozess einbezogen werden soll, wird hier kritisch hinterfragt. Durch den konsequenten Einsatz von verschiedenen Quoten in den meisten Projekten konnten wir den Anteil von FLINT*-Personen im Vergleich zu ähnlichen Projekten erheblich steigern. Im Strafrechts- und Grundrechte-Projekt sind die Verhältnisse nahezu ausgeglichen. Optimal ist das Migrationsrechts-Projekt aufgestellt. Hier war ich besonders froh, Dr. Dana Valentiner als Mitherausgeberin eines Podcasts zu feministischer Rechtspolitik mit im Team zu haben. Sie hat unseren Blick sehr dafür geschärft, nicht nur auf geschlechtergerechte Sprache zu achten, sondern auch die Geschlechterbalance in den Fußnoten zu verbessern. Was wir in diesem Projektabschnitt nicht mehr geschafft haben, war die aktivere Einbindung von Studierenden in die Erstellung und Kommentierung der Materialien.

Projekt Grundrechte

Am weitesten fortgeschritten ist das Grundrechte Projekt. Hier bin ich Mitherausgeber, gemeinsam mit Dr. Dana Valentiner, wofür ich ebenfalls außerordentlich dankbar bin. Unser Lehrbuch mit über 400 DinA4-Seiten ist weitgehend fertig geschrieben und befindet sich in einem letzten intensiven Peer-Review. Die Fälle des Fallbuches zu den Grundrechten sind schon länger fertig und werden im laufenden Sommersemester in verschiedenen Arbeitsgemeinschaften angewandt. Für das Grundrechte-Projekt habe ich Ende letzten Jahres gemeinsam mit Dana auf dem JuWiss-Blog geworben. Daraufhin erhielten wir erfreulich viele Bewerbungen von Doktorand:innen und Habilitand:innen aus ganz Deutschland. Eine ausführlichere Bilanz des Projekts gibt es bald auf dem Verfassungsblog (Link folgt).

Das Projekt ist im Vergleich zu sonstigen Lehr- und Fallbüchern der Rechtswissenschaft eher ungewöhnlich. Zunächst weil es durch ein großes, gleichberechtigtes Team mit vielen unterschiedlichen Perspektiven geschrieben worden ist. Wir versuchen, leicht zugängliches Wissen für Anfänger:innen zu bieten, aber gleichzeitig tiefere Ebenen der Kritik einzubinden. Ersteres wird in der Rechtswissenschaft typischerweise von kommerziellen Skripten wahrgenommen, Letzteres passiert in Vorlesungen und Lehrbüchern von Professor:innen. Mit den Stärken eines digitalen Mediums können wir die unterschiedlichen Ebenen verbinden und gleichzeitig voneinander abgrenzen. Zugleich sollen die Bücher durch häufig eingebundene Übungen interaktiver werden.

Beide Bücher wurden in einer relativ kurzen Zeit erstellt. Nach ungefähr drei Booksprints, die jeweils einen Monat dauerten, standen die meisten Inhalte. In den letzten Wochen sind noch die letzten notwendigen Kapitel dazu gekommen. In jedem Booksprint haben die Autor:innen ihre Beiträge untereinander gegengelesen, was sicherlich ungemein förderlich für ihre Qualität war. Auch die Struktur des Buches hat sich im Laufe der Monate häufig verschoben. Es ist ein Lehrbuch mit sehr starkem europäischen/internationalen Einschlag geworden. Außerdem positioniert es sich pointiert in aktuellen Debatten (staatliche Schutzpflichten in der Corona-Pandemie, Grundrecht auf Klimaschutz). Die Arbeitsweise – und die hohe Qualifikation des Teams – haben hier viele kreative Energien freigesetzt.

Die komplette Genese des Buches, inklusive aller Versionen und Kommentare ist bei Wikibooks einsehbar (besonders intensiv war die Diskussion parallel zum Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts). Zurzeit reden wir mit unterschiedlichen Verlagen, um das Buch als „traditionelle“ Open-Access-Veröffentlichung zu verbreiten. Dabei sollen allerdings zumindest in der digitalen Version die Links auf Wikibooks erhalten bleiben. Die Version bei Wikibooks soll sowohl Archiv für die vorangegangenen Diskussionen sein, als auch Werkstatt für die nächste Auflage. Nicht zuletzt erhalten die Leser:innen so auch eine Möglichkeit, über die Kommentar- oder gar Bearbeitungsfunktionen bei Wikibooks mit den Autor:innen in Kontakt zu treten.

Die Arbeit mit den 23 anderen Teammitgliedern war für mich unheimlich bereichernd. Grundrechte sind ein politisch stark umkämpftes Feld. Deshalb war es nur natürlich, dass in dem Projekt viele unterschiedliche Sichtweisen aufeinandertreffen. Dennoch war die Diskussion ungemein konstruktiv, produktiv und vielfältig. Die finalen Versionen der Lehr- und Fallbücher sind echte Gemeinschaftsprojekte.

Projekt Migrationsrecht mit asylrechtlichen Bezügen

Von Anfang an mitgedacht in meiner Bewerbung bei der Wikimedia Stiftung war ein Fallbuch zum Migrations- und Asylrecht. Zielgruppe waren u.a. die Refugee Law Clinics, welche ehrenamtlich und kostenlos Rechtsberatung für Geflüchtete anbieten. Herausgeber:innen im Projekt sind Rhea Nachtigall, Lars Wasnick und Johanna Mantel. In dem Projekt entsteht eine extrem umfangreiche Sammlung von 64 Fällen, was ein echtes Novum ist, da es hierzu kaum Fallmaterialien gibt. Obwohl das Asyl- und Migrationsrecht für viele Menschen so essenziell wichtig ist, wird es an den Universitäten nur vereinzelt gelehrt. Ein Teil des Fallbuches ist bereits komplett fertiggestellt, die restlichen Kapitel sollen bis zum Herbst finalisiert werden. Das Projekt ist nicht nur wegen des besonderen Themas und der speziellen Zielgruppe interessant, sondern auch weil unter den Autor:innen einige Praktiker:innen (Richter:innen, Anwält:innen) zu finden sind.

Projekt Strafrecht

Auch das Projekt Strafrecht war von Anfang an dabei, obwohl sie im ursprünglichen Antrag nicht offiziell aufgeführt worden sind. Die Herausgeber:innen sind Louisa Zech, Johannes Busch und Kilian Wegner. Ihr sehr ambitioniertes Ziel ist es, das komplette examensrelevante Strafrecht abzubilden. Im Moment wird an einem Lehrbuch zum besonderen Teil des Strafrechts gearbeitet. Das umfasst eine Vielzahl unterschiedlicher Delikte vom Mord bis zum Diebstahl. Gerade im Strafrecht gibt es eine Vielzahl kommerzieller Publikationen in diesem Bereich. Es wird ein interessantes Projekt, hier gezielt eine Open Access Publikation zu verbreiten. Die behandelten Themen sind sehr prominent im juristischen Studium und haben eine potenziell große Zielgruppe.

Projekt Staatsorganisationsrecht

Als erstes Projekt, das sich aus einem anderen Projekt entwickelt hat, entstand das Lehrbuch zum Staatsorganisationsrecht. Die Herausgeber:innen Louisa Linke und Jaschar Kohal sind gleichzeitig Autor:innen im Grundrechte-Team. Das Staatsorganisationsrecht ist an vielen Stellen mit den Grundrechten verknüpft. Wir achten deshalb schon jetzt auf den Remix bereits erstellter Materialien aus dem Grundrechte-Lehrbuch. Außerdem werden die beiden Bücher intensiv aufeinander verweisen. Im Gegensatz zum Grundrechte-Projekt war es hier zunächst eine Herausforderung, die sehr breiten Themen des Staatsorganisationsrechts in handhabbare Arbeitsschritte eines Booksprints zu untergliedern. Auch das Staatsorganisationsrecht ist juristischer Pflichtfachstoff und könnte viele Abnehmer:innen unter den Studierenden finden.

Verwaltungsrecht in der Klausur

Auch die über das Open Science Programm der Wikimedia geförderten Bücher von Nikolas Eisentraut zum Verwaltungsrecht sind Teil von OpenRewi. Nikolas ist gleichzeitig Autor im Grundrechte Projekt und unterstützt OpenRewi im Koordinationsteam. Sobald in den staatsrechtlichen Lehrbüchern (Grundrechte, Staatsorganisationsrecht) verwaltungsrechtliche Themen auftauchen, verweisen wir auf die verwaltungsrechtlichen Bücher. Langfristig ist auch eine noch engere Verknüpfung des Buchs mit den neueren OpenRewi-Werken angedacht.

Intellectual Property Law

Ähnlich wie das Projekt Migrationsrecht behandelt das Handbuch zum Intellectual Property Law ein in der Praxis relevantes, aber an der Universität im Grund- und Hauptstudium eher spezielleres Thema. Julia Wildgans und Niclas Gajeck beabsichtigen ein Handbuch zum Urheberrecht herauszugeben: „Das Handbuch soll Forschenden und Studierenden, aber auch interessierten Praktiker*innen stets aktuellen, thematisch orientierten Zugang zum grünen Bereich verschaffen. Ausgehend von Einzelbeiträgen, die jeweils eine aktuelle Frage des Bereichs aufgreifen, wird dieses Handbuch unter Berücksichtigung der Grundsätze des jeweiligen Rechtsgebiets Probleme, Lösungspotenziale sowie sich abzeichnende Entwicklungen aufzeigen. Nach und nach soll ein Gesamtwerk entstehen, das Probleme – ggf. rechtsgebietsübergreifend – erörtert.“ Besonders schön ist, dass Julia selbst Open Science Fellow bei der Wikimedia war. Aktueller Titel des Werkes ist „Geistige Güter & Wettbewerb“.

Public International Law Project

Das Public International Law Project überflügelt alle übrigen Projekte in seinen Ambitionen. Sué González Hauck und Max Milas, beide Autor:innen im Grundrechte-Projekt, wollen gemeinsam mit Raffaela Kunz das erste internationale OpenRewi-Projekt starten. Es soll ein Buch zum internationalen Recht mit Autor:innen aus der ganzen Welt werden. Erstaunlicherweise gibt es bis jetzt kein Open Access Buch in diesem Bereich. Der Call for Authors ist noch offen. Die bisherigen Reaktionen waren aber extrem positiv und vielversprechend.

Fazit?

Zu Beginn des Projekts habe ich definitiv unterschätzt, wie viele Kommunikationsströme auf die Autor:innen einprasseln würden. Unsere Nextcloud-Instanz war von Anfang an offen zugänglich für alle Beteiligten. Alle konnten alles bei den anderen sehen. In den Onboarding-Anleitungen habe ich empfohlen, die Smartphone-Apps inklusive Benachrichtigungen zu installieren. Intensive inhaltliche Diskussionen, flache Hierarchien und eine agile Arbeitsweise in kurzen Zeitabschnitten sorgen für viele Gespräche. Wir haben uns bewusst von der E-Mail als Kommunikationsmedium verabschiedet und stattdessen Nextcloud-Talk (ähnlich Signal, Threema, Telegram) benutzt. Gerade Nachrichten zu ungewöhnlichen Uhrzeiten und am Wochenende haben hier viele Autor:innen unter Stress gesetzt, möglichst schnell zu antworten. Dank unserer kontinuierlichen Evaluationen bei jedem Treffen konnten wir das Problem zum Glück relativ früh entdecken. Im Endeffekt haben wir die Benachrichtigungen auf die Teams beschränkt, auf die Möglichkeiten zur individuellen Benachrichtigungseinstellung in der Nextcloud hingewiesen und einen Code of Conduct für die gemeinsame Kommunikation aufgestellt.

Der rein digitale Aufbau funktionierender Teams ist eine Herausforderung. Durch die Corona-Pandemie hatten wir schlicht nicht die Möglichkeit, uns persönlich kennenzulernen. Deswegen dauerte es in einigen Projekten etwas, bis die gemeinsame Diskussion in Gang kam. Sehr hilfreich war hier die gemeinsame Arbeit an Texten und Konzepten. Auch gemeinsame Kennenlern-Abende, Icebreaker oder Breakout-Rooms waren hilfreich.

Agile Arbeitsweisen auf ein freiwilliges Neben-Projekt der Beteiligten zu übertragen bleibt weiterhin eine Herausforderung. Kurze Arbeitszeiträume disziplinieren, setzen aber gleichzeitig unter Stress. Viele agile Konzepte wie SCRUM oder Design Thinking sind zudem auf kommerzielle Wertschöpfung ausgelegt, die bei uns ersichtlich nicht im Vordergrund steht. Hier wäre eine professionelle Beratung und/oder ein Austausch mit anderen NGOs fruchtbar, die ähnlich arbeiten.

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