Es ist soweit: Im Februar diesen Jahres ist das erste offen lizenzierte Lehrbuch in der deutschsprachigen Rechtswissenschaft „Verwaltungsrecht in der Klausur“ bei De Gruyter veröffentlicht worden. Schon im November letzten Jahres wurde zudem das begleitende Fallrepetitorium „Fälle zum Verwaltungsrecht“ im Carl Grossmann Verlag veröffentlicht.
Herzstück des Projekts: Die offene Lizenz
Beide Bücher sind jedoch nicht nur klassisch als Printausgaben im Buchhandel erhältlich und stehen auf der jeweiligen Verlagshomepage zum kostenlosen Download bereit. Sie sind darüber hinaus als Wikibook erschienen und unter der Lizenz CC BY-SA 4.0 offen lizenziert. Die offene Lizenz erlaubt es, die Veröffentlichungen weitreichend nachzunutzen und ermöglicht zugleich eine Verknüpfung mit anderen offenen Lehrinhalten. Das Wikibook konnte so bereits mit von Studierenden der Bucerius Law School erstellten und ebenfalls offen lizenzierten Lehrvideos verknüpft werden. Stück für Stück soll das Wikibook so zu einer umfassenden Lernumgebung für Verwaltungsrecht heranwachsen, die ein medienübergreifendes Lernen möglich macht.
Wie alles anfing: Willkommen im Open-Science-Universum
Mit der Veröffentlichung erreicht mein Projekt seinen vorläufigen Abschluss, an dessen Anfang im Mai 2018 nur die Idee stand, endlich einmal offene Lehrmaterialien für die Rechtswissenschaft zu erstellen. Seitdem ist unheimlich viel passiert, auf das es sich zurückzublicken lohnt. Alles begann mit der Zusage, dass meine Projektidee im Fellow-Programm Freies Wissen von Wikimedia, dem Stifterverband und der Volkswagen Stiftung gefördert würde. Das darauffolgende 9-monatige Fellowship hat nicht nur wichtige Projektgelder eingebracht, mit denen die Kosten für die Verlagsveröffentlichung bestritten werden konnten. Es hat auch Einblicke und eine Vernetzung mit der Open-Science-Szene ermöglicht und ein Forum geschaffen, in dem eine konzentrierte Auseinandersetzung mit dem Thema Open Science in seinen vielen Facetten möglich war. Wesentlich für mein Projekt war die über das Fellowship vermittelte Vernetzung mit der rechtswissenschaftlichen Open-Access-Szene, die ziemlich zu Beginn meines Projekts in Frankfurt am Main unter dem Motto „Open Access – Pflicht oder Privatsache?“ tagte. Denn die Themen Open Access und Open Educational Resources sind bisher noch Nischenthemen in der Rechtswissenschaft. Schnell war klar, dass mit dem Projekt nicht nur ein Lehrbuch entstehen, sondern zugleich ein erster „Leuchtturm“ für offene Lehrmaterialien in der Rechtswissenschaft entstehen würde. Auf der Tagung konnte ich bereits die Verlagsvertreter:innen kennen lernen, mit denen später die Verlagsveröffentlichung realisiert wurde. Zudem lernte ich hier Vertreter:innen der Open-Access-interessierten Bibliothekslandschaft kennen, die ich später auf Veranstaltungen zum Thema Open Access an der Staatsbibliothek und den Open-Access-Tagen in Hannover wiedertreffen sollte. Zurück in Berlin meldete sich auch das Open-Access-Büro der Freien Universität Berlin, das von meinem Fellowship erfahren hatte. Und schon war ich mitten im Open-Science-Universum unterwegs und dazu noch mit einem rechtswissenschaftlichen Inhalt, was bei vielen auf großes Interesse stieß. Ich trug auf einem Event der Open Science Working Group der FU Berlin zum Thema „Practices of Open in Legal Theory“ vor, habe eine Veranstaltung zum Thema „Promotionen Open Access veröffentlichen“ organisiert, eine Homepage aufgesetzt, um dort über meine Tätigkeit als Rechtswissenschaftler im Sinne von Open Science zu bloggen, pflege einen Twitter– und einen Instagram-Account und Anfang des Jahres durfte ich auf der Assistententagung zur Öffnung der Rechtswissenschaft im Sinne von Open Science vortragen.
Ein Lehr- und Fallbuch schreiben: Die Projektphase
Parallel zu dieser abstrakten Beschäftigung mit Open Science und ihren Bezügen zur Rechtswissenschaft ging es an die eigentliche Arbeit, an dessen Anfang im Juni 2018 die inhaltliche und didaktische Konzeption des Lehrbuchs stand, woran sich die Autor:innensuche anschloss. Schon zwei Monate nach Projektbeginn war ein Großteil der Themen vergeben, was mich ob der geringen Verbreitung offener Lehrmaterialien in der Rechtswissenschaft zunächst überraschte. Die angefragten Autor:innen waren jedoch gegenüber der Idee eines offen lizenzierten Lehrbuchs sehr aufgeschlossen und freuten sich darauf, an diesem neuartigen Konzept mitzuwirken. Die Zeit war also reif und ein Anfang gemacht.
Dann ging es an die Ausarbeitung und Finalisierung der Beiträge, was bis Juli 2019 dauerte und vom Zeitaufwand einen deutlichen Schwerpunkt des Projekts darstellte. An dem Projekt wirkten 35 Rechtswissenschaftler:innen mit, was insbesondere ein hohes Maß an Koordination erforderlich machte, um eine didaktisch und inhaltlich der Konzeption entsprechende Umsetzung zu ermöglichen. An die Ausarbeitung der Lehrbuchabschnitte schloss sich ein von mir durchgeführtes Review der Beiträge an, die sodann finalisiert und von mir in einer Gesamtdatei zusammengeführt wurden. Abschließend wurden Randnummern vergeben und die Autor:innen vernetzten über Querverweise ihre Beiträge mit denen der anderen, um trotz der Vielzahl an mitwirkenden Autor:innen ein in sich geschlossenes Lehrbuch vorweisen zu können. Dieser Teil fand nicht öffentlich statt, weil ich den Autor:innen einen geschützten Raum für die Ausarbeitung einräumen wollte. Im Rückblick hätte man womöglich auch diesen Projektschritt schon öffnen können und bereits gemeinsam auf Grundlage der Infrastruktur von wikibooks.org arbeiten können.
Dokumentation und Veröffentlichung
Ich begann parallel dazu, den Projektverlauf umfassend auf der Projektseite auf Wikiversity zu dokumentieren, um meine Erfahrungen nachnutzbar zu machen. Früh nahm ich auch Kontakt zu Verlagen auf, bei denen das Lehrbuch veröffentlicht werden könnte und begann mit der Sondierung geeigneter Publikationsformen. Neben der Ausarbeitung war dies einer der intensivsten Arbeitsschritte, weil ich mich in die im Open-Science-Bereich etablierten Publikationsformen (Gitlab, Github, Wikibooks) erst einarbeiten musste. Dass das Lehrbuch neben der digitalen Verfügbarkeit zugleich als gedrucktes Buch erscheinen sollte, war mir früh klar, kontrovers habe ich mich aber mit den das Projekt begleitenden Kolleg*innen darüber auseinandergesetzt, ob dafür ein Rückgriff auf einen (kostenpflichtigen) Verlag erforderlich oder ob eine Veröffentlichung nicht auch im Selbstverlag möglich wäre. Letztlich entschied ich mich für eine Kooperation mit dem Verlag De Gruyter, der großes Interesse an der Realisierung eines OER-Lehrbuchs zeigte, gleichzeitig aber als seit langem in der Rechtswissenschaft etablierter Verlag auch in der „alten Welt“ des juristischen Lehrbuchs zu Hause ist. Weil De Gruyter jedoch für die vom Fellowship zur Verfügung gestellten Gelder zu teuer war, musste ein Teil des Lehrbuchs, nämlich die 16 großen Beispielsfälle, ausgelagert und zudem der Open-Access-Förderfonds der FU Berlin in Anspruch genommen werden. Dafür wird das Lehrbuch nun – neben der digitalen Open-Access-Veröffentlichung – im Print für knapp 40 Euro vertrieben, was bei Print-On-Demand-Anbietern bei über 1000 Seiten Lehrbuch nicht möglich gewesen wäre. Der Carl Grossmann Verlag, ein auf Open Access spezialisierter Verlag, war zudem bereit, die 16 ausgelagerten Fälle zu finanzierbaren Konditionen als Lehrbuch begleitendes Fallrepetitorium zu veröffentlichen. Damit bildet das Projekt die zur Zeit im Open-Access-Bereich existierenden Strukturen fast vollständig ab: Involviert sind ein etablierter Verlag, der sein Geschäftsmodell zunehmend auf Open-Access-Modelle umstellt, ein junger, auf Open Access spezialisierter Verlag und Wikibooks als neue Oberfläche für die Publikation digitaler, offener Bücher. Während es dem Carl Grossmann Verlag mühelos gelang, die digitale Veröffentlichung zu setzen und dabei Anforderungen wie verlinkte Fußnoten und Lesezeichen in der pdf-Datei umzusetzen, tat sich De Gruyter damit weitaus schwerer. Der Prozess vom eingereichten Manuskript bis zur Veröffentlichung zog sich, mit diversen Korrekturschlaufen, über 6 Monate hin. Auch der Upload der Inhalte auf Wikibooks stellte sich als sehr zeitintensiv dar. Zwar konnte die Word-Datei mittels des Programms Pandoc ins MediaWiki-Format übertragen werden. Dabei gingen jedoch Randnummern und Formatvorgaben verloren, die daher händisch nachgetragen werden mussten. Auch machte es Wikibooks als Plattform erforderlich, die klassische Struktur eines gedruckten Buches aufzubrechen, sinnvolle Einheiten aufzuteilen, zu verlinken, sowie eine eigenständige Menüführung einzupflegen.
Erste Downloadzahlen und Ausblick
Doch die Mühe hat sich gelohnt: Lehrbuch und Fallrepetitorium finden Anklang bei den Studierenden, letzteres wurde bis dato von der Verlagshomepage über 4500 Mal heruntergeladen. Auf das Lehrbuch wurde über das Repositorium der FU Berlin bereits über 6300 Mal zugegriffen. Ein großer Erfolg, an den es sich anzuknüpfen lohnt!
Dafür wollen wir mit OpenRewi.org eine Plattform für alle schaffen, die Lust auf noch mehr OER-Projekte und noch mehr kostenlose und offen lizenzierte Lehr- und Fallbücher in der Rechtswissenschaft haben. Alle weiteren Infos zur Mitarbeit auf OpenRewi.org findet ihr hier.
Nach der Veröffentlichung ist bekanntlich vor der Neuauflage. Auch „Verwaltungsrecht in der Klausur“ soll in eine zweite Runde gehen. Ziel ist es, neben den bei Neuauflagen obligatorischen Aktualisierungen, Lehr- und Fallbuch auf Wikibooks.org Stück für Stück zu einer digitalen Lernumgebung für Verwaltungsrecht anwachsen zu lassen. Dafür sollen neben Wiederholungsfragen zu den Lehrbuchinhalten auch vermehrt Videos in den Lehrbuchcontent eingebunden werden. Sobald das Projekt in die zweite Runde geht, erfahrt ihr davon auf OpenRewi.org!