Interview von Jonas Hantow und Dr. Antonia Paula Herm, mit Unterstützung von Sophie Reule
Hintergrund
Das Projekt KidRewi setzt sich für eine erhöhte Sichtbarkeit von Akteur*innen in der Rechtswissenschaft ein, die sich mit dem Thema Open Access beschäftigen oder Vorreiter*innen in diesem Bereich sind. Am 4. Juli 2024 fand dazu ein Interview mit Annalena Mayr und Shari Gaffron statt, zwei der insgesamt sechs Herausgeber*innen eines Kurzlehrbuchs im Sozialrecht, das derzeit mit der Beteiligung von 40 Personen entsteht.
Das OpenRewi-Projekt zum Sozialrecht soll bis April 2025 eine bisher unbeachtete Lücke in der Lehrbuchlandschaft schließen und als erste frei verfügbare und erweiterbare neutrale Quelle sozialrechtlichen Fachwissens dienen.
Das Team von KidRewi hatte die Gelegenheit, die beiden Herausgeber*innen vor dem offiziellen Projekt-Kick-Off zu verschiedenen Themen zu befragen. Das Interview wurde in drei Teilen durchgeführt, die nacheinander veröffentlicht werden. Dieser erste Teil befasst sich mit dem Hintergrund und den Zielen des Projekts. Die folgenden Teile beleuchten die Herangehens- und Arbeitsweisen vor bzw. während der Schreibphase genauer.


Das dringend benötigte Lehrbuch
KidRewi:
Guten Morgen Annalena und Shari. Vielen Dank, dass ihr euch heute Zeit für uns genommen habt. Wir freuen uns, mit euch über das geplante Kurzlehrbuch zum Sozialrecht sprechen zu können.
Shari Gaffron und Annalena Mayr:
Guten Morgen, vielen Dank für die Einladung.
KidRewi:
Lasst uns doch gleich in die erste Frage zum Hintergrund und den Zielen des Projektes starten. Beginnen möchten wir allgemein mit der Frage, wie ihr die Ziele des Projekts kurz beschreiben würdet?
Shari Gaffron:
Sehr gern. Was wir mit dem Projekt gern machen würden, ist, zusammen mit OpenRewi ein Open-Access-Lehrbuch für das Sozialrecht zu erstellen. Unser Ziel mit dem Lehrbuch ist, das gesamte prüfungsrelevante Sozialrecht knapp, aber auch verständlich zu behandeln. In der derzeitigen Lehrbuchlandschaft ist das nicht selbstverständlich.
Wir möchten das Lehrbuch gerne problemorientiert aufbereiten, sodass damit strukturiert wiederholt und vertieft werden kann. Wichtig ist uns aber auch, mit unseren Ausführungen nicht zu sehr auszuufern, um das Lehrbuch trotz der umfassenden Themen relativ knapp und handhabbar zu halten.
Im Moment sind wir sechs Herausgeber*innen und 38 Autor*innen im Projekt. Das ist der aktuelle Stand.
KidRewi:
Das ist eine beachtliche Anzahl an Autor*innen. Darauf werden wir später sicherlich noch genauer eingehen.
Nun erstmal noch eine Frage zum Thema des Buchs. Wir fragen uns, weshalb ihr euch für das Sozialrecht entschieden habt. Was ist das Besondere daran?
Annalena Mayr:
Eigentlich hat jede Person mit gewöhnlichem Aufenthalt in Deutschland in der einen oder anderen Form mit dem deutschen Sozialrecht zu tun. Sei es durch die Krankenversicherung oder die Rentenversicherung. Trotzdem ist das Sozialrecht aber immer noch ein Nischenfach und spielt keine große Rolle in der juristischen Ausbildung. Dabei gibt es eigentlich viele Möglichkeiten, in der Ausbildung mit dem Sozialrecht in Berührung zu kommen: 32 der 43 juristischen Fakultäten bundesweit haben Schwerpunktbereiche mit sozialrechtlichen Bezügen. Im Assessorexamen kann das Sozialrecht in fast allen Bundesländern als Wahlfach geprüft werden.
Auch das Angebot in der Lehrbuchlandschaft ist vergleichsweise begrenzt. Die meisten Lehrbücher zum Sozialrecht behandeln ganz bestimmte Fokusbereiche, wie das Sozialversicherungsrecht, während andere Bereiche in den Hintergrund treten. Dazu zählen unter anderem das Recht der sozialen Förderung, der sozialen Entschädigung, das Existenzsicherungsrecht auch zusammen mit dem Asylbewerberleistungsgesetz. Diese Bereiche werden oft sporadisch oder gar nicht behandelt. Das ist eine Lücke, die wir versuchen zu schließen.
Das Lernen und die Anforderungen an die Lehre haben sich in den letzten Jahren außerdem stark verändert, was insbesondere durch die Corona-Pandemie verstärkt wurde. Mittlerweile schauen Studierende bei Fragen zu einem Themenkomplex nicht mehr in einem händischen Lehrbuch in der Bibliothek nach, sondern wählen häufig den Online-Zugriff. Deswegen sind Online-Ressourcen besonders auch im Sozialrecht wichtig. Freizugängliche Informationen über das Sozialrecht gibt es zwar schon, aber diese werden überwiegend von Initiativen, wie Erwerbslosenvereinen oder von den zuständigen Trägern selbst, zur Verfügung gestellt. Frei verfügbare, neutrale Quellen über sozialrechtliches Fachwissen gibt es aktuell noch nicht.
KidRewi:
Also ein digitales Lehrbuch, um nah an der Zielgruppe zu bleiben. Bei der Vielzahl an Themenbereichen ist die Lücke wahrscheinlich nicht allzu klein. Dafür habt ihr dennoch sehr viele Autor*innen für das Projekt gewinnen können. Gab es Herausforderungen, die ihr bei der Themenauswahl und der Suche nach Autor*innen überwinden musstet, vor allem, weil das Projekt in einem Nischenbereich angesiedelt ist?
Shari Gaffron:
Ja, sowohl als auch. Wir haben schon erwähnt, dass das Sozialrecht in der Regel kein Pflichtfachstoff ist. Das heißt, das Sozialrecht wird an den juristischen Fakultäten in verschiedenen Schwerpunktbereichen angeboten, die sich von Universität zu Universität unterscheiden. Teilweise ist das Sozialrecht auch Bestandteil des Studiums an Fachhochschulen, z. B. in den Studiengängen Soziale Arbeit, Personal-/Gesundheitsmanagement oder auch in dem eigenen Masterstudiengang Sozialrecht an der Universität Kassel. Alle haben unterschiedliche Schwerpunkte und unterschiedliche Zugänge zum Sozialrecht. Wir möchten natürlich gerne für alle Studierenden da sein. Das bedeutet, wir haben eine extrem breite Zielgruppe mit ganz unterschiedlichen Lernzielen und ganz unterschiedlichen Schwerpunkten innerhalb des Sozialrechts. Deswegen muss das Buch auch entsprechend breit aufgestellt sein, was sich dann in der Zahl der Autor:innen niederschlägt.
Das Sozialrecht umfasst zudem viele verschiedene Regelungsbereiche. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass Teile des Krankenversicherungsrechts eng mit dem medizinischen Leistungserbringerrecht verbunden sind und daher häufig von Medizinrechtler*innen abgedeckt werden, während das Gewaltopferentschädigungsrecht in der Praxis überwiegend von strafrechtlich geschulten Nebenklagevertreter*innen betreut wird.
Aufgrund der Breite des Rechtsgebietes einerseits und der eher randständigen Berücksichtigung in der juristischen Ausbildung andererseits fehlt es an enorm vielen Stellen an Sozialrechtswissenschaftler:innen. Dieses Vakuum wird in Teilen durch eine extrem engagierte Justiz aufgefangen. Die Justiz füllt dadurch nicht nur große Teile von unseren sozialrechtlichen Fachzeitschriften, sondern auch viele Kapitel unseres Lehrbuchs.
Auch wenn die Justiz sehr viel auffängt und enorm viel leistet, war es oft nicht leicht, für bestimmte Kapitel oder Kapitelteile die richtigen Autor:innen zu finden.
KidRewi:
Trotz seines Nischenstatus scheint das Sozialrecht sehr viele Bereiche zu berühren. Für uns zeigt dies einerseits die Notwendigkeit einer breiteren Verfügbarkeit von digitalem Lehrmaterial. Zum anderen wurde jetzt bereits darauf hingewiesen, dass es im Projekt wichtig war eine frei verfügbare, neutrale Quelle zu schaffen. Warum wurde sich in diesem Zusammenhang überhaupt für eine Open-Access-Publikation in der Rechtswissenschaft entschieden?
Shari Gaffron:
Was uns an der Idee von Open Access motiviert hat, ist nicht nur die Lücke in der Lehrbuchlandschaft zu schließen, sondern auch die Grundidee von OpenRewi: Dass ein Lehrbuch nicht nur die Perspektive eines einzelnen widerspiegelt, sondern in einem kooperativen Prozess erstellt wird, in dem eine Vielzahl von unterschiedlichen Autor*innen mit unterschiedlichen Perspektiven Einfluss auf den Inhalt, aber auch auf die Struktur des Lehrbuches nehmen können.
Gerade das Sozialrecht, was so extrem breit aufgestellt ist und so unterschiedliche Teilbereiche mit eigenen Systemvoraussetzungen betrifft, kann sinnvoll eigentlich nur von verschiedenen Personen aufgearbeitet werden.
Der erste Impuls, so ein Lehrbuch zu erstellen, entstand durch persönlichen Kontakt. Ich durfte an der Professur Schuler-Harms mit ganz tollen Kolleg*innen zusammenarbeiten und dem Grundrechtslehrbuch und dem Europarechtsexaminatorium beim Entstehen zuschauen. Als Max [Petras] dann vorgeschlagen hat, ich könnte doch ein Herausgeber*innenteam für das Sozialrecht zusammenstellen, fand ich die Idee natürlich großartig.
KidRewi:
Ihr habt beschrieben, wie wichtig die Zusammenarbeit und die Vielfalt der Perspektiven bei der Erstellung des Lehrbuchs sind. Was denkt ihr, welche Vorteile bringt die Veröffentlichung als Open-Access-Werk für die Leser*innen und das Autor*innenteam mit sich?
Annalena Mayr:
Zunächst einmal gibt es ganz offensichtliche Vorteile von Open Access, nämlich, dass damit in erster Linie ein kostenfreier und barriereärmerer Zugang zu Wissen von überall und damit ortsunabhängig möglich wird. Dabei ist wichtig zu erwähnen, dass die juristische Ausbildung bereits sehr teuer ist und Bibliotheken nur ein begrenztes Angebot an Wissen, also Bücher und andere Literatur, haben.
Durch das Konzept von OpenRewi und den von uns genutzten Plattformen, wie PubPub, gibt es zudem die Möglichkeit, dass das Buch durch Kommentare und Diskussionen stetig fortentwickelt werden kann. Dadurch sind wir besonders bei der Open-Access-Veröffentlichung nicht mehr an bestimmte Auflagen gebunden. Im Idealfall sind Lehrbücher schließlich für Studierende geschrieben, und Studierende wissen oft am besten, was sie brauchen, um gut lernen zu können. Eben durch diese Kommentare und Diskussionen, die bei unserem Projekt möglich sein werden, können wir mit dieser Zielgruppe in Kontakt treten, um uns auszutauschen und dementsprechend unser Lehrbuch anpassen. Dazu zählen natürlich auch Praktiker*innen, die wir dann in gleicher Weise mit unserem Lehrbuch ansprechen wollen.
KidRewi:
Das ist sehr interessant zu hören. Vor allem auch in Hinblick auf den dritten Teil des Interviews zur Arbeitsweise, in dem auch Redaktions- und Editionsumgebungen, in dem Fall PubPub, eine Rolle spielen.
Dass es für das Projekt so selbstverständlich war, Open Access und kollaborativ zu publizieren, ist wirklich großartig. Habt ihr schon vorher Erfahrung mit Open Access sammeln können oder ist das die erste große Veröffentlichung in diesem Format?
Annalena Mayr:
Im Herausgeber*innenteam haben die meisten schon Erfahrung mit dem Verfassungsblog gemacht. Dieser bietet die Möglichkeit, im Open Access Wissen in Form von Artikeln zu veröffentlichen. Die Personen, die das aus unserem Team gemacht haben, waren ganz begeistert davon, was für eine Reichweite frei zugängliches Wissen haben kann.
Unser Mitherausgeber Julian Seidl und auch ich hatten außerdem schon Erfahrung mit OpenRewi und somit auch Kontakt mit dem Konzept von Open Science. Dabei hat uns, wie Shari bereits gesagt hat, der kooperative Prozess einfach begeistert. Die Möglichkeit, direktes Feedback von den Leser*innen zu erhalten, und eben auch, was für eine Reichweite unsere dort erstellten Projekte haben können.
KidRewi:
Wir haben nun viel über Digitalität geredet, obwohl auch heutzutage noch traditionell die meisten Publikationen in der Rechtswissenschaft im Printformat erscheinen. Ist trotz des Ziels vom Projekt, das digitale Lehrbuch kontinuierlich zu erweitern, eine Printversion geplant?
Shari Gaffron:
Genau, wir planen trotzdem, eine Printversion zu veröffentlichen, können aber aktuell noch nicht sagen, wo diese erscheinen wird. Wir sind dahingehend noch am Anfang unserer Gespräche mit verschiedensten Verlagen.
Das Interview hat drei Teile. Der zweite Teil des Interviews wurde am 11.03.25 veröffentlicht. Der dritte Teil wird am 18.03.25 veröffentlicht.